Regine Spangenthal

Das Differential der Farben

Denkfiguren in 5 + 1 Abschnitten
Von Wilhelm Roskamm

Film und Malerei

Walter Benjamin bemerkte vor ungefähr 70 Jahren, „daß alle Probleme der heutigen Kunst ihre endgültige Formulierung nur im Zusammen­hange des Films finden.“ Benjamin bezog diese Bemerkung auf eine gewisse Vorrangstellung des Films gegenüber den anderen Künsten, weil es dem Film durch seine mediale Voraussetzungen möglich war, den damaligen, neuen „Anschauungsformen, Tempi und Rhythmen“ Ausdruck zu verleihen. (1) Gleichzeitig verweist diese Passage auf den Zusammenhang zwischen den Kunst­formen und der Möglichkeit ihrer Wechselwirkung. Die gegenseitige Beeinflussung kann auch dazu führen, dass die Bedingungen des eigenen Mediums überschritten werden. Bei dieser Überschreitung denkt man natürlich zuallererst an Beispiele aus der Vorgeschichte des Films: die Nahaufnahme bei Dickens, die Verwendung des „Offs“ in Madame Bovery oder die Schock­wirkungen im Dadaismus, um hier nur einige zu nennen. Handelt es sich dabei um experimentelle Verfahrensweisen, die die bisher codierten Grenzen des eigenen Mediums überschreiten, um Möglichkeiten der Filmkunst zu antizipieren, so ergeben sich nach der Etablierung des Films als hegemoniales Medium zahlreiche Wechsel­wirkungen zwischen den Kunstformen, nun aber in umgekehrter Richtung.

In den Arbeiten der Berliner Künstlerin Regine Spangenthal zeigt sich, dass Fotographie und Film die Malerei nicht verdrängt haben, sondern dass durch die Übersetzung filmischer Elemente etwas Neues in der Malerei entstehen kann. Die Inspiration durch Fotographie und Film bleibt nun nicht auf der inhaltlichen Ebene stehen: Regine Spangenthal integriert formale Elemente unmittelbar in die Malerei und erweitert dadurch deren Kompositionsmöglichkeiten. Diese Entstehung neuer Formen ist schon auf den ersten Blick offensichtlich. Fast alle Arbeiten von Regine Spangenthal bestehen nicht aus einem, sondern aus mehreren Bildern: zwei, drei oder fünf Bilder bilden eine Serie und manchmal vervielfältigen sich die Serien zu 10 oder 11 Bildern, wie z.B. in der Autobahnserie I. P., die nur in der Ausstellung zu sehen war. Diese Serien zeigen uns die unterschiedlichsten Dinge: sich bewegende Gegenstände im Raum; Portraits, die aus Ausschnitten von Gesichtern bestehen; Stilleben; Alltagsszenen auf der Straße, im Bus: an den verschiedensten Orten. In allen Serien werden einzelne Momente eines Geschehens ausgewählt und neu miteinander verbunden. Dieses Malen in Serien greift immer wieder künstlerische Elemente aus dem Film auf: es lassen sich Schwenks, Zooms, Nahaufnahmen usw. erkennen.

Was sich aus dieser Übernahme von filmischen Elementen für das Malen in Serien ergibt, ist ein kompositorisches Problem, das die Arbeiten von Regine Spangenthal mit dem Film teilt. Jedes einzelne Bild muß so gemalt sein, dass es Anschluß an die anderen findet. Der Rahmen muß als Grenze des Bildes aufgelöst oder – um einen Begriff aus der Filmtheorie zu verwenden – dekadriert werden.(2) Nur durch diese Dekadrierung ist es möglich, dass sich die Elemente und der Raum des Bildes öffnen, um über den Zwischenraum der Bilder mit den anderen Bildern einen Zusammenhang herzustellen. Dekadrierung und Montage finden nun nicht wie im Film nacheinander statt, sondern gleichzeitig. Jedes einzelne Bild hat keinen Bestand für sich, sondern nur im Zusammenhang mit dem anderen. Diese Serien sind also relationale Gefüge: wird ein Teil in einem Bild verändert, dann kommt es zu Verschiebungen im Ganzen. Am deutlichsten zeigt sich dieses kompositiorische Problem in den Serien, in denen sich bewegende Gegenstände dargestellt werden. Damit die Bewegung zwischen den Bildern als Bewegung wahrgenommen werden kann, muss das richtige Maß zwischen Kontinuität und Bruch, zwischen Wiederholung und Differenz hergestellt werden. Ist die Differenz zu groß, fällt die Serie zu Einzelbildern auseinander, ist sie zu klein, bekommt die Serie den Eindruck einer Wiederholung des Gleichen: weder in dem einen, noch in dem anderen Fall können wir in der Betrachtung die Wahrnehmung von Bewegung herstellen.

Was für die Komposition einer Serie gilt, hat auch Gültigkeit für die Rezeption. Dem Betrachter stellt sich die Aufgabe, jedes einzelne Bild als transitorischen Ort der Bewegung anzusehen. Nur dadurch wird es ihm möglich, die Bewegung als Bewegung wahrzunehmen. Was beim Film durch den Projektionsapparat hergestellt wird, muss bei den gemalten Serien der Betrachter ohne technische Hilfe leisten: den stillgestellten Bildern Bewegung zurückgeben. Ähnliches gilt auch für die Serien, in denen die Ortsbewegung keine Rolle spielt: die vorgegebene Konstellation muss in ihrem Zusammenhang gesehen und gedacht werden.

So zeigen sich die ersten Differenzen zwischen dem Film und den gemalten Serien. Die Analogie von Film und Malerei ist immer begrenzt. Auch wenn sich die Malerei den Themen der Bewegung und der Zeit annimmt, so bleibt sie doch eine räumliche Kunst. Dies gilt auch für die hier gezeigten Werke. Was in einem Film die Schnitte sind, wird in diesen Serien zu Zwischen-Räumen; die Bewegung von Gegenständen ist nicht real (weder im technischen, noch im diegetischen Sinne), sondern erschließt sich nur durch die Betrachtung; und schließlich sind die Bilder nicht fotografiert, sondern gemalt. Wie die Beschreibung der Malweise und der Farbgebung zeigen wird, handelt es sich bei der Übernahme filmischer Elemente nicht um eine am Film orientierte Malerei – so lassen sich die Serien auch nicht als Konstellationen von Stills interpretieren -, sondern Regine Spangenthal übernimmt diese künstlerischen Elemente aus dem Film, um sie zu eigenständigen Mitteln der Malerei zu machen.

Bildbeschreibung Kreuzung E.

In der Serie Kreuzung E. sehen wir ein Taxi an einer Kreuzung um die Ecke biegen. Diese Serie besteht aus fünf Bildern, die Richtung der Betrachtung wird durch die Autofahrt bestimmt, sie verläuft von links nach rechts. Dabei sehen wir das Taxi nie in seiner vollen Größe, sondern immer durch den Rahmen angeschnitten. In dem ersten Bild ist das Taxi noch durch ein anderes Auto verdeckt, durch die Fenster des in Nahaufnahme und unscharf gezeigten Autos können wir die ersten Konturen erkennen – dass es sich überhaupt um ein Taxi handelt, erschließt sich erst durch die folgenden Bilder. In dem letzten Bild ist das Taxi schon nicht mehr zu sehen: es gibt nur die Leere des Ortes. Die Taxifahrt vom ersten bis zum fünften Bild wird durch eine Farbbewegung begleitet: das erste Bild ist in einem Rot gehalten und verändert sich kontinuierlich zu einem Grau im letzten Bild. Neben diesen drei sofort erkennbaren Veränderungen – der Taxifahrt, der Farbverschiebung von einem Zinnoberrot zu einem reinen Grau und dem Übergang von der Fülle zur Leere – finden zwei weitere Bewegungen in der Serie statt. Die ganze Szene der Serie wird durch einen Schwenk von links nach rechts dargestellt. Gleichzeitig sind die Bildausschnitte so gewählt (durch Verschiebung des Bildausschnittes), dass wir uns, fast unmerklich, von der Kreuzung entfernen, wodurch im letzten Bild die Entfernung am größten ist.

Somit kulminieren alle Bewegungen der Serie in dem letzten Bild. Die Leere des Ortes verweist nun nicht nur auf den Raum, sondern auch auf die Zeit. Und zwar durch den Zusammenhang aller Bilder. Wir sehen eine Taxifahrt und einen leeren Ort: wohin ist das Taxi verschwunden? In den Zwischenraum der Bilder? Oder ist das Taxi schon durch das letzte Bild hindurchgefahren? Die Folge der Bilder erweckt diesen Eindruck. Aber wir wissen nicht, wie lange das Taxi schon durch diesen Ort hindurchgefahren ist. Ist es gerade geschehen, oder schon vor langer Zeit? Diese Unentscheidbarkeit verweist auf die Differenz von Bewegung und Zeit. Und zwar auf eine Zeit, die sich nicht von der Bewegung herleitet: die Unbestimmtheit der zeitlichen Einordnung macht die Zeit von der Bewegung unabhängig. Bei dem letzten Bild handelt es sich um ein indirektes Bild der Zeit.(3) Dieses Bild unterbricht nicht die Bewegung, sondern stellt den Durchgangsort der Bewegung dar, gleichzeitig wird die Zeitlichkeit der Bewegung mit einer anderen Zeit konfrontiert: das Bild drückt eine Veränderung des Ganzen, eines Zeit-Ganzen aus, von der sich jede Bewegung ableitet. Die Leere des Raumes wird zur Leere der Zeit. Dies impliziert einen Begriff der Zeit, durch den die Zeit zur Bedingung der Möglichkeit jeder Art von Bewegung bzw. Veränderung wird.

Zwischen Abstraktion und Figuration

Cézanne hatte seine Abkehr von der malerischen Repräsentation durch eine berühmte Formel zum Ausdruck gebracht: „Die Kunst ist eine Harmonie parallel zur Natur.“ In Zeiten der hegemonialen Medientheorie würde man sagen, dass Kunst und Natur (bzw. sinnliche Wahrnehmung) eigenständige Medien sind, die ihre je eigene Ordnung, ihre Materialitäten und Codes haben. Und deshalb ist keine Repräsentation, keine Nachahmung der Natur möglich. War Cézanne mit seinem Werk ein Wegbereiter der modernen und vor allem der abstrakten Kunst, so besagte seine Formel über das Verhältnis von Natur und Kunst nicht, dass es keinerlei Beziehung zwischen beiden medialen Ordnungen geben kann. Trotz der Wesensdifferenz von Natur und Kunst ging es Cézanne darum, die Ordnung der Natur, ihre Formen und Kräfte zu erfassen und sie in das Farb- und Formsystem seiner Kunst zu übertragen. Entsprechend seiner Abkehr vom Naturalismus wollte er nicht die sichtbaren Figurationen der Natur, sondern „die Tiefe der Natur“, „die Entfaltung des Seins“(4) malen. Die Übertragung der Natur in die parallele und autonome „Harmonie“ der Kunst, hatte Cézanne als entsubjektivierten „Übersetzungsvorgang“ beschrieben.(5) Durch diese Art der medialen Transformation eröffnete er der modernen Kunst einen Weg zwischen Figuration und Abstraktion. Auch Regine Spangenthal hat mit ihrem Werk diesen Weg beschritten, wenn auch in ganz anderer Weise: so geht es ihr nicht darum, die Tiefe der Natur, sondern die Fragilität und Flüchtigkeit der alltäglichen Dinge und Begebenheiten in Malerei zu transformieren.

In Ihren Arbeiten wird der Transformationsprozess vom Gegenstand zum Kunstwerk noch vervielfacht. Regine Spangenthal arbeitet immer mit Fotos, meistens macht sie die Fotos in Hinblick auf die Serien selber, manchmal werden auch noch andere Medien zwischengeschaltet, so gibt es Vorlagen für Serien, die direkt von einem Fernsehbildschirm abfotografiert wurden. Diese Fotos – schnell und einfach, ohne künstlerischen Anspruch aufgenommen und zu Serien zusammengestellt – bilden das eigentliche Material ihrer Arbeiten. Nach Maßgabe der Komposition einer Serie werden aus den einzelnen Photos Ausschnitte gewählt und mittels eines Rasters in Bahnen, breite Zeilen unterteilt. Diese werden Zeile für Zeile auf die Leinwand übertragen. Regine Spangenthal geht also nicht von den in den Fotos gegebenen Formen aus, sondern zerteilt diese Formen. Was bleibt sind Reste dieser Formen, Linien und Konturen, bruchstückhaft und losgelöst vom Gegenstand, aus denen sich dann wieder der Gegenstand neu zusammensetzt.

Bei der zeilenartigen Malweise zeigt sich deutlich die Übersetzung von einem Medium ins andere. Entsprechend dem ausgewählten Farbsystem werden die Farben durch die Modulationstechnik auf die Leinwand übertragen. Dabei entstehen die Linien und Konturen, die in den Fotos als Grenzen fungieren, durch die Verdichtung der Modulation. Die Konturen bilden also keine Grenze zwischen getrennten Gegenständen, sondern es sind verdichtete Übergänge, die den Gegenstand neu entstehen lassen. Durch diese Malweise und die dadurch entstehenden gebrochenen Linien entsteht keine Räumlichkeit, sondern eine Betonung der Oberfläche, die leicht vergrößert erscheint.

Die zeilenartige Malweise zeigt sich besonders deutlich in der Serie Museum, da deren Bilder nicht von rechts nach links, sondern von oben nach unten gemalt sind. Weil die menschliche Wahrnehmung sich stärker an horizontalen Linien orientiert, erscheint die Brechung der horizontalen Linien stärker als bei den vertikalen. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass es in den Bildern dieser Serie zahlreiche horizontale und schräge Linien gibt.

Einerseits ist also die gegenständliche Ebene in den Bildern zahlreich gebrochen: durch die zeilenartige Malweise, das Anschneiden der Figuren, die Dekadrierungen und die Komposition zu einer Serie. Und andererseits bleibt trotz der Vielzahl der Transformationsprozesse ein Bezug zum Gegenstand in den Bildern erhalten. Im Gegensatz zu dieser Transformation der Form, wird bei der Farbgebung stärker vom Gegenstand abstrahiert. Es wird ein differenziertes Farbsystem ausgewählt, das nichts mit der ursprünglichen Farbigkeit der Gegenstände zu tun hat. Trotzdem besteht der Malakt in einer Übersetzung. Die ursprüngliche Farbigkeit wird auf deren Helligkeitswerte reduziert und dann in das ausgewählte Farbsystem übertragen. Diese Farbsysteme können komplex und miteinander kombiniert sein, aber sie können auch einfach sein wie z.B. in dem letzten Bild der Kreuzung E., das in einem reinen Schwarz – Grau – Weiß System gemalt ist.

Farbe und Zeichnung lassen in Kombination miteinander, aber in je unterschiedlicher Weise, die Gegenstände in den Bildern neu entstehen: Zeile für Zeile, Bild für Bild, Serie für Serie.

Bildbeschreibung Straße N.

Bei der Serie Straße N. handelt es sich um eine alltägliche Straßenszene: eine Frau anscheinend mittleren Alters, in der Hand ein Plastiktüte, taucht aus dem Hintergrund auf und nähert sich auf einem Fußgängerweg dem Betrachter, bis sie aus dem Blick verschwunden ist. Links ist die Szene durch eine Reihe parkender Autos und rechts durch eine Häuserfront begrenzt. Die Serie besteht aus 5 + 1 Bildern. Der zeitliche Verlauf der Serie wird durch das Näherkommen der Frau bestimmt. Dadurch lässt sich auch die Richtung des Schwenks erschließen: er verläuft von links nach rechts, setzt aber erst mit dem dritten Bild ein, gleichzeitig mit dem Schwenk findet eine Zoombewegung statt: durch Ausschnittsverkleinerung werden die Gegenstände fast kontinuierlich vergrößert. Obwohl der Schwenk das Beiläufige der Begegnung mit der Frau betont – der Schwenk folgt nicht der Frau, sondern landet an der Häuserfront -, zentriert sich die Serie auf das mittlere Bild. Das Bild zeigt uns den Moment, in dem die Frau in den Vordergrund tritt und wir sie bis auf den Kopf in ihrer vollen Gestalt sehen. Dieses Bild ist in gewisser Weise von den anderen Bildern der Serie eingeschachtelt. Links außen verdeckt ein Auto den Blick auf den Fußgängerweg, parallel dazu lässt im Bild rechts außen das Massive der Häuserfront dem Blick keinerlei Freiraum. In beiden Bildern ist die Frau nicht zu sehen: links ist sie noch nicht zu sehen und rechts ist sie schon aus dem Blick verschwunden. Zwischen diesen beiden äußeren Bildern, die eher etwas verdecken als zeigen, setzt sich die Symmetrie weiter fort. Wir sehen im zweiten Bild die Frau nur im Hintergrund und im vierten Bild ist von ihr nur noch ein kleiner Teil, aber in Nahaufnahme zu sehen. Durch diese Einschachtelung wird der räumliche Aspekt der Serie betont: es geht nicht primär um die Bewegung zwischen den Bildern, sondern um die Konstellation von Bildern, in denen die Bewegungen in einzelnen, beliebigen Momenten stillgestellt sind. Vielleicht ist es diese Zentrierung und die räumliche Wirkung der unterschiedlichen Blautöne, die dem Betrachter den Eindruck der Ruhe vermitteln, die die ganze Szene ausstrahlt. Vielleicht kommt dieser Eindruck aber auch durch das zustande, was die Künstlerin als „Individualklang“ bezeichnet.

Werden in vielen Serien die Bilder durch ein Farbsystem von zwei oder mehreren Farben moduliert, sei es innerhalb einer Serie oder innerhalb eines Bildes, so werden in den Bilder mit „Individualklang“ alle grundlegenden Farbsysteme verwendet. Der „Individualklang“ konstituiert sich dadurch, dass sich alle Farbsysteme auf ein virtuelles Zentrum beziehen. Dieses Zentrum ist virtuell, weil die Differenzialität der Farbsysteme, die Gewichtung der Farben, die Verhältnisse von kalten und warmen, von reinen und gebrochenen Farben verhindern, dass die Spannung zwischen den Farben bzw. die Relationalität des Farbsystems sich in diesem Zentrum ausgleichen. Obwohl virtuell alle Farben an einem Bild beteiligt sind, aktualisiert sich der „Individualklang“ nur in bestimmten Farben. So taucht z.B. ein kaltes Gelb nur in der Mischung mit einer anderen Farbe auf, gleichwohl hat durch die Relationalität des Farbgefüges dieses Gelb, obwohl es nicht zu sehen ist, Anteil an dem ganzen Bild bzw. der ganzen Serie. Die Selektion der Farben findet also ausschließlich auf der aktuellen, nicht aber auf der virtuellen Ebene statt. Durch den selektiven Charakter dieser Aktualisierung entsteht ein Saum von Farben um das virtuelle Zentrum. Dadurch konstituiert sich die Individualität des „Individualklangs“ und lässt ein komplexes Farbgefüge entstehen, dessen Farbstruktur nur schwer zu bestimmen ist.

In Straße N. wird das Aufbrechen der Linearität der Serie und die Betonung der räumlichen Anordnung nun noch zusätzlich durch das Alternativbild hervorgehoben. Bei dieser Ergänzung der Serie durch ein Alternativbild handelt es sich um ein neues Element in den Arbeiten von Regine Spangenthal. An einer Stelle einer Serie wird unterhalb oder oberhalb eine Bildes eine anderes Bild gesetzt, das auf eine alternative Möglichkeit des Gezeigten verweist. Diese Einführung einer paradigmatischen Ebene kann in unterschiedlicher Weise geschehen. In der Serie Straße N. handelt es sich bei dem Alternativbild um die Wiederholung des gleichen Bildausschnittes, die Farbgebung ist aber eine ganz andere. Während in der Serie in allen Bildern der oben beschriebene Individualklang vorherrscht, übersetzt das Alternativbild die Helligkeitswerte in das Farbsystem kaltes Gelb – Grün – warmes Blau. Es entsteht ein starker Kontrast zu der Serie, wodurch das ergänzende Bild fast irreal erscheint. Dagegen wird in der Serie Von G. nach H. das Alternativbild nicht nur mit einem anderen Farbsystem gemalt, sondern gleichzeitig ein anderer Bildausschnitt ausgewählt, sodass nicht unbedingt erkennbar wird, ob es sich um die identische Photovorlage handelt. Die paradigmatische Ebene verweist also nicht nur auf die Unabhängigkeit der Farbgebung von den Gegenständen, sondern auch auf den selektiven Aspekt der Bildausschnitte.

Kolorismus

„Das Licht ist Zeit, der Raum aber Farbe. Koloristen nennt man die Maler, die Valeurverhältnisse durch Tonverhältnisse übersetzen und nicht nur die Form, sondern auch Schatten und Licht und Zeit durch diese reinen Verhältnisse der Farbe ‚wiedergeben’ wollen.

Sicher handelt es sich um keine bessere Lösung, sondern um eine Tendenz, die die Malerei durchzieht und in ihr charakteristische Meisterwerke hinterlässt, die sich von den charakteristischen Werken anderer Tendenzen unterscheiden. Die Koloristen werden Schwarz und Weiß, Hell und Dunkel sehr gut verwenden können; aber sie behandeln eben Hell und Dunkel, Weiß und Schwarz als Farben und stellen Tonverhältnisse zwischen ihnen her. ‚Kolorismus’ – das sind nicht nur Farben, die in ein Verhältnis zueinander treten (wie in jeder Malerei, die dieses Namens würdig ist); das ist die Farbe, die als variables Verhältnis, als Differentialquotient entdeckt wird, von dem der ganze Rest abhängt. Wenn ihr die Farbe bis hin zu ihren reinen inneren Verhältnissen treibt (warm/kalt, Expansion/Kontraktion), so habt ihr alles. Wenn die Farbe vollendet ist, d.h. die für sich selbst entfalteten Verhältnisse der Farbe, dann habt ihr alles, Form und Grund, Licht und Schatten, Hell und Dunkel.“

„Der Kolorismus (Modulation) besteht nicht nur in den Verhältnissen von Warm und Kalt, Expansion und Kontraktion, die je nach betrachteter Farbe variieren. Er besteht auch in den Farbregimen, den Bezügen zwischen diesen Regimen, dem Zusammenklang zwischen reinen und gebrochenen Tönen. Was man haptisches Sehen nennt, ist eben dieser Sinn für Farben.“

„Das ‚moderne Portrait’ wäre Farbe und gebrochene Töne, im Unterschied zum alten Portrait, das aus Licht und verfließenden Tönen besteht.“(6)

Farbe und Raum

Ein wesentliches Merkmal der gemalten Serien von Regine Spangenthal besteht darin, dass es in ihnen kein Licht gibt. Es gibt keine Lichtquelle, innerhalb oder außerhalb des Bildfeldes, das die Gegenstände erhellt und den Bildraum in Licht und Schatten unterteilt. Weil ihr künstlerisches Verfahren darin besteht, die Helligkeitswerte der farbigen Vorlagen in Farbwerte zu übersetzen und diese Farben dann auf die Leinwand moduliert werden, entsteht in ihren Bildern kein Licht und kein Schatten. Jeder kleine Schatten der Vorlage wird zu einer Farbe, vielleicht dunklen Farbe, aber diese Farbe ist nur Teil des relationalen Farbgefüges und steht somit mit allen anderen Farben des Bildes in einem kontinuierlichen und differentiellen Zusammenhang. Der Schatten ist keine Schatten mehr, so wie das Licht kein Licht mehr ist. Das einzige Licht von dem man sprechen kann, ist das Licht, das im Moment unserer Betrachtung auf die Bilder fällt.

Licht, die Verwendung der räumlichen Farben und die Zeichnung von Linien und Formen sind die Mittel, mit denen die Malerei auf der Oberfläche der zweidimensionalen Leinwand einen Raum, den Bildraum herstellen kann. Werden diese Mittel nicht oder kaum verwendet, dann werden die Bilder flach: weder gibt es eine Tiefe des Raumes noch räumliche Ebenen, durch die sich Vorder- und Hintergrund unterscheiden lassen. Dies gilt insbesondere für Portraits, in denen Gesichter in Nahaufnahme und ohne Bezug zu anderen Figuren gezeigt werden.

Ein entsprechendes Beispiel findet sich in dem Werk von Regine Spangenthal in der dreiteiligen Portraitserie N.-F. B. II. Durch die enorme Größe (je 150 mal 220 cm) entstehen aus den briefmarkengroßen Vorlagen große Farbflächen, die Farbgebung ist durch ein leicht gebrochenes Schwarz – Grau – Weiß System bestimmt, eine schwache Räumlichkeit ergibt sich durch die Konturierung der Gesichtzüge, da diese aber relativ groß sind, gibt es durch die zeilenartige Malweise kaum gebrochene Linien, sondern kleine Flächen, die horizontal leicht verschoben erscheinen. Die verdichteten Übergange der Gesichtzüge unterscheiden sich nicht wesentlich von der kontinuierlichen Modulation des Hintergrundes. Durch die feine gleichmäßige Modulierung entsteht nur eine minimale räumliche Differenz zwischen Gesicht und Hintergrund, so dass die Bilder flach erscheinen und sie durch all diese Aspekte einen reliefartigen Eindruck hinterlassen.

In neueren Arbeiten versucht Regine Spangenthal durch eine stärkere Konturierung der Gesichtszüge, der Verwendung der räumlichen Farben Blau und Gelb und der Auswahl eines entsprechenden „Individualklangs“ ihren Gesichtern eine stärkere Räumlichkeit zu geben. Beispiele für diese Tendenz in ihrem Werk sind die Serien W. II und W. III, die beide nur in der Ausstellung zu sehen waren.

Anmerkungen
1 Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, 1.Band, Frankfurt am Main 1983, S. 498

2 Pascal Bonitzer hatte diesen Begriff der Dekadrierung in die Filmtheorie eingeführt. Vgl. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild Kino I, Frankfurt am Main 1989, S. 30. Deleuze greift diesen Begriff auf und macht Rahmung und Entrahmung bzw. Dekadrierung zu allgemeinen Kategorien seiner Philosophie der Kunst, so dass sie nicht nur für die bildende Kunst, sondern z.B. auch für die Musik Gültigkeit beanspruchen. Deleuze, Gilles; Guattari, Félix: Was ist Philosophie? Frankfurt am Main 1989, S.222-227.
3 Zum Begriff des indirekten Bildes der Zeit: Vgl. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild Kino 2, Frankfurt am Main 1991, S. 53-63.
4 Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und er Geist, Hamburg 1984, S.40
5 Alle Zitate von Cézanne in Doran, Michael (Hrsg.): Gespräche mit Cézanne, Zürich 1982, S. 136-137, 153.
6 Deleuze, Gilles: Francis Bacon Logik der Sensation, 1.Band, München 1995, S. 85, 93, 87.